Der ICE nach München war nur mäßig besetzt, sodass der ältere Herr das Abteil für sich alleine hatte. Seinen Gedanken nachhängen – auch mal schön. In einer Welt voller Hektik.
Und genau die holte ihn nach dem ersten Halt wieder ein, in Gestalt eines dynamischen Herrn im mittleren Alter.
„Hier ist noch frei?“ Mit charmant geübtem Lächeln und ohne eine Antwort abzuwarten, okkupierte er den gegenüberliegenden Fensterplatz. Nicht nur das gleichnamige Magazin unter seinem Arm, sondern seine gesamte Aura aus Erfolg, Business und Maßanzug outeten ihn als Manager – als Macher.
So hielt er es kaum zehn kommunikationsfreie Minuten aus, bis er endlich ein Eröffnungsthema zwischen den beiden Reisenden gefunden hatte:
„Handwerkskammer?“ sagte der Manager und schaute den älteren Herrn fragend an.
„Wie bitte?“ fragte dieser erstaunt zurück, ob des Zeigefingers, der geradewegs auf sein Revers zeigte.
„Das goldene Abzeichen, oder sonst was mit Bau oder Innung oder so. Den Zirkel und den Winkel meine ich. Handwerkerverband?“
„Ja, so etwas Ähnliches“ gab sein Gegenüber lächelnd zurück, „nur leider nicht mit so vielen Mitgliedern.“
„Wem sagen Sie das? Ich lebe sozusagen von und mit diesen Nachwuchssorgen“ entgegnete der Dynamiker, der mit einer tausendfach geprobt fließenden Bewegung eine Visitenkarte aus dem Inneren der Nadelstreifen zauberte.
„Bernd Weber, Chief Community Developer bei Saxman, Gold und Partners.“
Der fragende Blick des älteren Herrn war ihm wohl nicht unbekannt, so reichte er die Übersetzung seines Berufsbildes gleich hinterher:
„Ihr Verein hat zu wenige Mitglieder? Bernd Weber ändert das. Nicht dass Sie mich missverstehen – keine Unterschriftensammlung oder so. Ich entwickle Konzepte für Verbände, um sie für Externe attraktiv zu machen. Pimp my Club – wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Der ältere Herr verstand – nichts.
Jetzt kam Herr Weber in Fahrt:
„Meine Kunden sind Gewerkschaften, Verbände aber auch Vereine. Alle mit demselben Problem: Die Alten sterben und der Nachwuchs fehlt. Ich sage ihnen also, wie sie sich nach außen darstellen müssen, um geeignete Mitglieder zu finden.“
„Und dafür gibt’s ein geeignetes Rezept?“ Der ältere Herr war sich bewusst, dass seine Nachfrage wohl alle Erklärungsdämme des Managers sprengen würde. Aber seine Neugier war geweckt. Das Thema Verein und zu wenige Mitglieder war ihm wohl bekannt, die Fahrt noch lange und der Mangel an anderen Gesprächspartnern offensichtlich.
„Nein, ein Rezept habe ich nicht“ meinte Weber, „aber am Ende des Tages ein Konzept. Jeder Kunde ist anders und die meisten Verbände vom Ideal eines Vereins leider meilenweit entfernt.“
„Ach, es gibt einen idealen Verein?“
„Leider nur in der Marktforschung“ lächelte der Manager. „Wir nennen ihn intern den „Gentlemen’s-Club“. Mein Team und ich, wir haben uns die Frage gestellt: Wie müsste der Verein aussehen, der keine Probleme hat, Mitglieder zu finden. Dem wir alle direkt beitreten und dessen Logo wir mit Stolz und Würde am Revers des Sakkos und am Heck des Cabrios tragen würden.“
Der älter Herr runzelte etwas enttäuscht die Stirn. „Einer dieser schnöseligen Business-Clubs also, oder was mit Golf oder Marketing. In jeder Kreisstadt schießen die doch aus dem Boden.“
Auf Webers Gesicht war die Genugtuung zu sehen, sein Gegenüber gleich mit der Antwort zu überraschen. Die kam – leicht nach vorne gebeugt – in gekonnt sonorem Tonfall:
„Kein Business, kein Golf und erst recht kein schnöseliger Modernkram. Tradition ist angesagt. Und davon mindesten 200 Jahre – besser noch: 300.
Die Wurzeln auf der Insel, die die Clubs erfunden hat: England.
Vor ewigen Zeiten auf undurchsichtigen Pfaden auch nach Deutschland gekommen. Übersetzt, teutonisch optimiert, aber immer noch mit britischem Flair.“
„Also doch Fußball“ der ältere Herr freute sich erkennbar über den gelungenen Scherz, der den Herrn Weber aber nur für eine Sekunde aus seinem Konzept bringen konnte.
„Mit gutem Fußball hat unser Club nur eins gemein: No Dogs or Women allowed.
Entschuldigen Sie diesen Chauvi-Spruch – aber die Erfahrung zeigt, dass die Geschlechtertrennung der Vereinsharmonie sehr dienlich ist. Es gibt bestimmte Themen, die sich nun mal besser unter Männern besprechen lassen.“
„Sag ich doch – Fußball“.
Als die gekräuselten Augenbrauen ganz deutlich die Worte „Sehr lustig“ auf die Stirn des Herrn Weber schrieben, war es für den älteren Herrn Zeit, mit einer thematischen Frage wieder für Schönwetter zu sorgen:
„Damit schließen Sie weltweit die Hälfte aller potenziellen Mitgliederinnen vom Vereinsleben aus. Eine geschlossene Gesellschaft ist dem Zwecke der Öffnung wohl kaum dienlich, oder?“
„Ganz im Gegenteil. Es hat sich gezeigt: Je höher die Hürde, desto mehr Spaß macht der Sprung. Desto größer der Wille Teil dieser Gesellschaft zu werden. Und wenn Sie erst einmal eine solche Hürde genommen haben, umso größer ist Ihr Stolz auf die eigene Leistung.“
„Sie haben Recht, was ich geschenkt bekomme, weiß ich oft nicht zu schätzen. Wenn ich aber genau weiß, was mich Tolles erwartet, dann...“
„Und genau das wissen Sie nicht“ fiel ihm der Manager ins Wort. „Meine Version des Sprichwortes lautet: Was ich nicht weiß, das macht mich heiß. Über der Eingangstüre des idealen Clubs müsste eigentlich ein einziges Wort in großen Leuchtbuchstaben stehen: Geheimnis.
Damit unterscheiden wir zwischen denen, die drin sind, also den Insidern – und wer möchte das nicht sein, und...“
„Der profanen Welt.“ fiel im jetzt der ältere Herr ins Wort.
Herr Weber stutzte: „Profan? Profan! Tolles Wort, das kommt direkt ins Konzept“.
Während er sich eine Notiz ins iPhone tippte, hakte sein Gegenüber nach.
„Aber eine solche Geheimniskrämerei lässt doch unendlichen Raum für wildeste Spekulationen? Geht das nicht etwas zu weit?“
„Ganz im Gegenteil“, sagte Weber, „das geht uns noch nicht weit genug. Wir warten, bis aus den Spekulationen eine Verschwörungstheorie wird. Denn wissen Sie, was Verschwörungstheorien sind?“
„Blödsinn“ antwortete der ältere Herr.
„Genau“, stimmte ihm Weber zu, „aber sie sind noch eins: gut für’s Geschäft. Ich sage immer: Wenn im Kopp-Verlag das erste Buch über dich erscheint, dann hast du es geschafft.“
„Apropos geschafft“ der ältere Herr ließ nicht locker, “wie schaffe ich es denn nun hinein, in den idealen Club.“
Der Manager lehnte sich zurück und ließ sich mit der Antwort etwas Zeit:
„Jedenfalls nicht über ein Internet-Formular oder eine E-Mail-Anfrage. Der Interessent wird eingehend geprüft, das dauert seine Zeit. Dann wird abgestimmt, auch nicht einfach durch Handheben, da sind wir noch am Überlegen, wie wir das dann nennen. Und dann wird er feierlich aufgenommen. Auch hier sag ich nur: Geheimnis. Ein wenig Fracksausen vor so einer Zeremonie hat noch nie geschadet.“
„Geheimnis – in Zeiten des Internet. Mein lieber Herr Developer“, sagte der ältere Herr, „so gut kenn ich mich ja schon im Netzt aus, um zu wissen, dass da nicht viel mit Geheimnis ist.“
Auf diesen Einwand schien der Angesprochene nur gewartet zu haben.
„Das hoffe ich sogar, dass Sie was im Internet finden, wenn Sie unser Aufnahme-Ritual googeln. Zum Beispiel, dass dabei schon einige Kandidaten umgekommen sind. Nun gut, im Jahr siebzehnhundert-schießmichtot. Das kann keiner nachprüfen und der moderne Manager von heute liebt die archaische Gefahr. Ich sage nur Bungee-Jumping und Paragliding.
Todesmutig betritt er zum ersten Mal bei seiner Aufnahme die heiligen Hallen unseres Clubs. Mein Mitarbeiter brachte mal Details wie verbundene Augen und halbnackt ins Gespräch – aber vielleicht geht das etwas weit.“
„Ja so was würde sich heute wohl niemand gefallen lassen“ bestärkte ihn der ältere Herr, der versonnen lächelte und einer Erinnerung nachzuhängen schien.
„Und alles in unserem idealen Club hat minutiös festgelegte Regeln. Ritualisierte Abläufe“. Die Augen des Herrn Weber strahlten vor Begeisterung und man konnte erkennen, wie viel Herzblut sein Team in dieses Konzept gesteckt hatte.
„Und natürlich braucht eine solche Gemeinschaft auch ihre Erkennungszeichen“ fuhr er fort.
„So wie meine Anstecknadel vom Handwerkerverband“, der älter Herr konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen und setzte noch einen drauf: „Aber bitte etwas Eleganteres als nur Trainingsjacke und besticktes Poloshirt.“
„Ich sehe, Sie haben das Prinzip verstanden“ freute sich der Manager. „Die Macher von heute mögen es konservativ, klassisch und wie gesagt – sehr traditionell. Ohne reaktionär zu sein. Erkennungszeichen ja, aber sehr dezent. Begrüßungsformeln, Passwörter, Gesten, so was halt. Deutschlandweit, ach was, weltweit gültige Zeichen. Ein wenig Geheimnis, ein bisschen unverständlich und eine Prise Verschrobenheit.“
„Sie müssen zugeben“, warf der ältere Herr ein, “für einen Unbedarften hört sich das schon etwas skurril an. Ich kenne keinen Verein, der so funktioniert.“
„Ich schon“, sagte Herr Weber, „nehmen Sie die Jäger: Eigene Sprache, eigenartige Rituale, eigenes Passwort: Waidmannsheil!
Einheitliches Lodengrün, sogar einheitliche Musik: Halali. Nichts Genaues weiß man nicht und das macht die Waidmänner auch irgendwie interessant. Und ganz nebenbei: Der Jagdverband ist mein Kunde. Ergebnis: Über 1.000 neue Lodenträger jährlich.“
„Aber es gibt auch genügend Jagdgegner, lieber Herr Weber“.
Dieser lächelte: „Und genau das schweißt eine Gemeinschaft zusammen. Daran kann sie wachsen, muss argumentieren, muss sich beweisen. Ein Jagdrevier ist kein Kindergeburtstag.“
Das schien dem älteren Herrn einzuleuchten. Mehr zu sich als zu seinem Gegenüber sagte er: „Professor Schmitt von nebenan ist auch Jäger – genau wie unser Bürgermeister. Und soviel ich weiß auch Hemingway...
„...und genau an diesem Punkt muss ich als Berater leider passen“ fiel ihm Herr Weber ins Wort. „Berühmte Persönlichkeiten, als Aushängeschild für Ihren Verein, die kann selbst ich Ihnen für die letzten dreihundert Jahre nicht herbeizaubern.“
„Ja“, sagte der ältere Herr, „so ein Goethe oder ein Mozart stünde wohl jedem Gentlemen’s Club gut zu Gesichte.“
„Jetzt mal nicht übertreiben, ein Oliver Hardy würde es für den Anfang auch schon tun.“ Der Manager wurde nachdenklich.
„Weil wir uns gerade so gut unterhalten, möchte ich ehrlich zu Ihnen sein. Unsere Marktforschung hat ein Ergebnis gebracht, über das wir seit Langem im Team streiten. Es geht um den Inhalt des Clubs, den Sinn, den Zweck.“
„Genau darauf wäre ich jetzt gekommen“ sagte der ältere Herr. “Da es ja Fußball nicht sein kann, womit beschäftigen sich denn die Herren im perfekten Club“?
„Mit sich selbst. Hört sich komisch an“, antwortete Weber, „aber bei den Umfragen kamen Ergebnisse heraus wie: Persönlichkeitsentwicklung, Gemeinschaftssinn, Brüderlichkeit. Und da hab ich die pathetischen Aussagen wie Gleichheit und Humanität noch ganz außen vor gelassen.
Das sind die Themen, die heute interessieren. Sozusagen ein 300 Jahre altes Manager-Seminar.
Und jetzt frage ich Sie: In welchem Verein soll ich das denn unterbringen?“
Gerade wollte ihm der ältere Herr antworten und die wahre Bedeutung seiner Anstecknadel erläutern, da sprang der Manager auf, schnappte sich Tasche und Magazin und wandte sich zur Tür des Abteils.
„Die nächste Station ist meine. Ich danke Ihnen für das interessante Gespräch. Und denken Sie dran: Sollte Ihnen mal so ein Gentlemen’s Club über die Füße laufen – sagen Sie mir Bescheid und schreiben Sie mich schon mal auf die Mitgliederliste.“
Er war eigentlich schon Richtung Ausgang verschwunden, als er sich noch einmal umdrehte und den Kopf ins Abteil steckte:
„Und was die Mitgliedersuche in Ihrem Handwerkerverband betrifft, da gibt’s ein tolles Mittel: Einfach mal drüber reden!“
Der älter Herr warf ihm noch ein freundliches Danke hinterher, aber der Chief Community Developer war bereits im Gang verschwunden.
Der alleine Gelassene lehnte sich zurück, zog einen Stift auf der Tasche und schrieb auf die Rückseite von Webers Visitenkarte ein einziges Wort: Suchender.
Dann schaute er aus dem Fenster und hing seinen Gedanken nach. Auch mal schön. In einer Welt voller Hektik.